Mittwoch, 8. Februar 2012

Drückeberger

"Wir müssen in die XYZStraße in Kreuzberg."

Und fügte entschuldigend hinzu:

"Wir besuchen unsere Tochter, die wohnt da."

Ich weiß ja auch nicht, warum man eine Fahrt nach Kreuzberg extra noch begründen muss, aber es gibt halt solche Menschen.

"Sie sind aber auch kein Ur-Berliner."

"Nee, aber ich lebe nun seit 27 Jahren in der Stadt."

Er schaute mich prüfend von der Seite an und meinte:

"Dann sind Sie also auch einer von denen, die sich in Berlin vor dem Wehrdienst gedrückt haben."

Oh, wie ich das hasse.

"Nein, ich habe ganz normal meinen Zivildienst gemacht und bin Jahre später erst nach Berlin gezogen. Im Zivildienst habe ich viel gelernt für's Leben. Z.B. den Umgang mit behinderten Menschen."

Aber er hatte mich jetzt verärgert und wes Geistes Kind er war, war nun auch klar.

"Da an der nächsten Kreuzung gibt es eine Ecke "Rudi-Dutschke-Straße/Axel-Springer-Straße. Ich nenne es immer die Versöhnungskreuzung."

"Es gibt hier eine Rudi-Dutschke-Straße? Das kann es ja nur in Kreuzberg geben." 

Sein Kopf lief dunkelrot an und seine Stimme wurde laut, sehr laut. Na gut, erzählste ihm jetzt nicht auch noch, dass es darüber sogar einen Bürgerentscheid gab und dass ich natürlich für diese Namensänderung gestimmt hatte. Sonst kollabiert der mir hier noch. Wir haben den Rest der Strecke schweigend hinter uns gebracht.

Für die jüngeren Menschen unter uns: Es stimmt. Bedingt durch den Sonderstatus von West-Berlin musste man hier keinen Kriegsdienst absolvieren. Es gab ja keine bundesrepublikanischen Truppen in West-Berlin. Es reichte, seinen Erstwohnsitz nach Berlin zu verlegen. (Man durfte sich aber nicht allzulange im Bundesgebiet aufhalten. Sonst kamen die Feldjäger.) Und so einige haben das aus genau diesem Grund auch getan. Aber einfach so aus dem hohlen Hirn Bauch heraus jemandem Drückebergerei zu unterstelllen, dazu muss man... nee, ich bin schon ruhig.
Ärgern tut mich das aber jedesmal von neuem.

Und nochmal für die Jüngeren:
Zu meiner Zeit gab es noch so etwas wie eine Gewissensprüfung. Denn nur aus Gewissensgründen durfte man verweigern. Und das muss man sich ungefähr so vorstellen.


Und Rudi Dutschke war er hier. Rudi Dutschke starb an den Spätfolgen eines Attentats durch einen Neonazi. Auch eine gewisse moralische Mitverantwortung der Springerpresse unterstellte man damals.
 
(Ein Beitrag aus der Abteilung: Opa erzählt von früher.)

2 Kommentare:

  1. Schön geschrieben. Habe eben Ihren Blog entdeckt und bin begeistert. Zumal: habe auch hohen Respekt vor ihrem Job in dieser (unseren) manchmal so stressigen Stadt. Vor kurzem musste ich dienstlich eine Großraumtaxe buchen, mehrere Stunden, mehrere Ziele: es war die seit langem mal wieder lustigste und lehrreichste und unterhaltsamste Taxifahrt mit einem 'richtigen' Berliner Kollegen. Chapeau!

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    1. Freut mich, wenn's gefällt.
      Und obwohl gerade dieser Beitrag zeigt, dass ich schon auf jede Menge "Lebenserfahrung" zurückgreifen kann, schlage ich doch vor, hier im Netz das übliche DU zu verwenden.
      Dein Bergmannstrassen-Kiez Blog ist mir bis jetzt auch durch die Lappen gegangen. Ich blättere noch ein bisschen und vielleicht erscheint es ja demnächst in meiner Blogroll.

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